Dann
stellt sich mir die Frage: Wie sieht denn der tantrische Weg in unserer westlichen Kultur in diesem Sinne eigentlich aus? Wir bewegen uns ja hier ohnehin schon im Bereich des Neo-Tantras, also einer neu-abendländisch interpretierten bzw. angepassten Form dieser ursprünglich fernöstlichen Lebensweise und Philosophie.
Ist nicht gerade der beabsichtigte Tabubruch ein Beweis dafür, dass für unseren Kulturkreis eine angepasste Form des Tantras geradezu notwendig ist? Denn hier wäre es ja wenig sinnvoll, Dinge einfach zu kopieren, die gar keinen Tabubruch (mehr) bedeuten. Fisch und Fleisch würden für Veganer einen Tabubruch darstellen, diese meiden dies in der Regel aber aus ethischen Gründen und dieses selbst auferlegte Tabu zu brechen, kommt für zumindest die aus vollster Überzeugung Handelnden kaum in Frage. Auch Wein trinken wäre keinem trockenen Alkoholiker zu empfehlen; ansonsten kann hier von einem Tabu in unserer Kultur kaum die Rede sein. Yoga? Wenn das mit der Einnahme von verbotenen Drogen verknüpft werden soll, sollte man sich über mögliche Konsequenzen im Klaren sein, würde man ertappt. Genauso gut könnte man ja mal einen Ladendiebstahl begehen oder schwarz mit der Bahn fahren. Welchen Sinn hätten solche Tabubrüche? Auch ritualisierter Sex in einem immerhin geschützten Raum im Rahmen einer solchen Veranstaltung ist nicht generell mehr ein Tabubruch, wohl unnötig, darauf hinzuweisen, dass man hier im Portal nur ein bisschen herumklicken muss, um zu sehen, welche Möglichkeiten es hier gibt, seine selbst ausgefallensten Bedürfnisse völlig legitim ausleben zu dürfen. Nur in der subjektiven Haltung der/des einzelnen kann hier natürlich ein Tabu vorliegen.
Da stellen sich mir nun folgende Fragen: Was gilt in unserem Kulturkreis als grundsätzliches Tabu? Ist die Tabuisierung gerechtfertigt? Hat es einen persönlichen Sinn (ich vermeide das Wort Nutzen), dieses Tabu brechen zu wollen und ist der (mögliche) persönliche Schaden daraus vertretbar? Sollte man eher statt nach generellen Tabus nach denen suchen, die in der Persönlichkeit des einzelnen verankert sind und dort ein starkes Hemmnis darstellen?
Sollte darum nicht jede/r mal bei sich selbst nachforschen, ob es für sie/ihn Schranken, gibt, die aus Tabus entstanden sind, deren Berechtigung fragwürdig ist? Diese könnten in der Tat im sexuellen Bereich liegen, aber auch in vielen anderen Lebensbereichen, zum Beispiel, wenn jemand aus der Sorge, es jedermann recht machen zu müssen, zu einem permanenten Opportunismus neigt. Auch die fehlende Fähigkeit zur Äußerung eines klaren "Nein!" gehört sicher dazu. Läge dann nicht hierin eine tantrische Aufgabe, nämlich die Ängstlichen, Zaudernden, wenn sie sich Befreiung wünschen, in einer Gruppe so einzubinden, dass sie mit den Mutigeren und Erfahrenen lernen, diese Grenzen zu überwinden (bzw. ggf. auch erst zu setzen)? Durch Sammeln positiver Selbstwirksamkeitserfahrungen sich selbst zu entdecken, wertschätzen, selbst lieben zu lernen usw.?
Dann aber wäre die Vorbereitung solcher Rituale weit anspruchsvoller, denn man müsste nicht nur auf Geschlechterparität, sondern auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Erfahrenen und Unerfahrenen achten und letztere bereits im Vorfeld einbinden, um deren Bedürfnisse zu erkunden. Dann wäre der Höhepunkt nicht unbedingt ein Vereinigungsritual (womöglich zu fordernd, da es ja dabei um weitaus mehr als Sex geht, wie ich schon mehrfach hier las). Andererseits muss unerfahren ja nicht gleichbedeutend sein mit fehlenden Tantra-Kenntnissen. Auch erfahrene Tantriker habe sicher noch ihre Baustellen, und so könnte natürlich auch eine Gruppe an sich erfahrener Tantriker mit besonderen Themen auf eine gemeinsame Reise gehen.
Nun ja, das war jetzt mal so ein Gedankenerguss, vielleicht zu viel Wunschdenken?