Tantra und Alter
Wahrscheinlich hat jeder von euch schon mal den Satz: „Bei Tantra spielt das Alter keine Rolle.“ so, oder so ähnlich gehört. Für jemand, der sich seit Jahren oder Jahrzehnten auf dem tantrischen Weg befindet, Frieden mit seiner eigenen Sterblichkeit geschlossen und gelernt hat, durch die Hülle des Körpers hindurch auf die Seele eines Menschen zu blicken, mag das wohl stimmen. Speziell für junge Menschen, die gerade anfangen sich für Tantra zu interessieren, sieht das, denke ich, jedoch anders aus. Dazu ein paar Gedanken von mir.Am Anfang steht für mich erst mal die Frage, warum dieser Satz so oft und gerne wiederholt wird, wer profitiert davon, wem nützt er. So weit ich das beurteilen kann, nützt er vor allem älteren Menschen, denn sie erhalten durch ihn quasi die Erlaubnis, ihren eigenen Körper zu mögen, etwas, was ihnen unsere Gesellschaft mit ihrem Jugendwahn gerne verwehrt. Auch wenn es selten offen ausgesprochen wird, habe ich oft den Eindruck, dass viele Menschen denken, ein alt aussehender Körper sei etwas, das man verstecken und für das man sich schämen muss. Dieser Selbsablehnung erzeugenden Sichtweise eine andere, liebevolle, bejahende entgegen zu halten ist in meinen Augen eine der großen Stärken der tantrischen Philosophie. Die Befreiung des Selbst wird durch die Akzeptanz von allem, was ist, erreicht.
Aber etwas akzeptieren und etwas gut finden sind zwei paar Schuhe. Akzeptieren bedeutet in meinen Augen vor allem, anzuerkennen, dass etwas ist, wie es ist, anstatt sich in Wünschen, Hoffnungen, Illusionen und Ängsten zu verlieren. Gut finden ist halt gut finden. Es bedeutet letztlich eine Situation mit einem freudigen Gefühl zu verbinden, weil durch sie ein persönliches Bedürfnis befriedigt wird. Etwas schlecht finden, ablehnen hingegen bedeutet, eine Situation mit einem negativen Gefühl, in der Regel Angst in Kombination mit einer der möglichen Reaktionsmuster Flucht, Angriff und Starre, zu verbinden, weil ein persönliches Bedürfnis nicht befriedigt wird oder droht, nicht befriedigt zu werden.
Ein weiterer häufig genannter Satz im Tantra ist ja nun: „Alle Gefühle dürfen sein, auch negative.“ Ein Gefühl, das gerade da ist, hat meiner Meinung nach grundsätzlich auch eine Daseinsberechtigung. Es gibt keine falschen Gefühle, jedes ist erst ein mal richtig, denn es hat eine Ursache. Also ist auch jedes Gefühl von Widerstand oder Ablehnung einem anderen Menschen gegenüber erst einmal völlig in Ordnung. Es darf sein, selbst, wenn sich die Ablehnung auf so profane Dinge wie Alter, Oberlippenbärte oder Körpergewicht bezieht. Erst wenn ich dieses Gefühl zulasse, bei mir selber wahr- und annehme habe ich die Möglichkeit in mir nach seiner Ursache zu forschen und zu überprüfen, ob sich die Ablehnung, die ich spüre, tatsächlich auf die jetzige Situation bezieht, oder ob ihr eine alte, negative und möglicherweise sogar unterdrückte Erinnerung zu Grunde liegt.
Das Gefühl, etwas oder jemanden abzulehnen, hat in meinen Augen einen klar positiven Aspekt. Es dient nämlich dazu, mich vor einer potentiellen Gefahr zu schützen, davor, dass ich in eine Situation gerate, in der ein wichtiges Bedürfnis von mir droht nicht erfüllt zu werden. Es ist die Angst vor Verlust von etwas, dass mir wichtig ist. Das kann meine Gesundheit sein, meine Sicherheit, mein Staus im Sozialverband, die Entscheidungshoheit über meine Handlungen, meine Verbindung zu einem bestimmten Menschen und viele weitere Dinge mehr. Die Einschätzung einer Situation als bedrohlich basiert letztlich auf den Erfahrungen, die ich in im Laufe meines Lebens in ähnlichen Situationen gesammelt habe, die negativ für mich verliefen. Es ist eine Annahme, die ich aufgrund meiner bisherigen Erlebnisse als wahrscheinlich erachte.
Erst, wenn ich bereit bin, mich mit meinen bisherigen, ähnlichen Erlebnissen auseinander zu setzen, kann ich meine Einschätzung der jetzigen Situation hinterfragen und überprüfen, ob gerade tatsächlich eine Bedrohung für mich vorliegt. Diese Bereitschaft lässt sich aber nicht von Außen erzwingen, sie muss aus mir selbst kommen und wird dann kommen, wenn mein Unterbewusstsein der Meinung ist, dass ich diese Auseinandersetzung auch verkrafte. Wenn sich diese Bereitschaft bei mir nicht einstellt, ist das beste, was ich machen kann, zu meiner Ablehnung zu stehen und die Situation zu verlassen. Beuge ich mich stattdessen z. B. im tantrischen Kontext dem Druck einer Gruppe, eines anderen Seminarteilnehmers oder gar der Anweisung eines Lehrers, verletzte ich mich selbst. Ich übergehe mein eigenes Bedürfnis nach Sicherheit, gestehe ihm weniger Wert zu als den Bedürfnissen nach Achtung, nach Harmonie in der Gruppe, nach (sexuellem) Kontakt etc. von anderen Leuten und damit gestehe ich mir selber weniger Wert zu als ihnen. Wenn ich dahin kommen will, meine eigene Göttlichkeit zu erkennen, ist so was eher kontraproduktiv...
Wenn ein junger Mensch, der gerade die emotionale Ablösung von seinen Eltern vollzogen hat oder sich womöglich noch in diesem Prozess befindet, keine Lust auf sexuellen Kontakt zu Menschen hat, die so alt wie oder älter als seine eigenen Eltern sind, dann halte ich das für eine gesunde und völlig normale Einstellung, die er jederzeit, auch in einem tantrischen Rahmen, vertreten darf. Sie basiert nämlich zu einem guten Teil auf genetisch verankerten, also angeborenen Verhaltensweisen und es bedarf einer gehörigen Portion Arbeit an sich selbst, um diese Verhaltensweisen bewusst außer Kraft setzen zu können, eine Arbeit, die die wenigsten Menschen mit Mitte dreißig bereits bewältigt haben, da sie in der Regel mit anderen Dingen beschäftigt sind. Und diese Einstellung ist dann bitte auch von allen anderen Anwesenden zu respektieren. Ein älterer Mensch, der damit nicht klar kommt, oder sie als 'untantrisch' brandmarkt, möge sich bitte zurück erinnern, ob er mit 25 gerne einen wie auch immer gearteten sexuellen Austausch mit einem / einer etwa 50 jährigen gehabt hätte, und seinen Standpunkt noch mal überdenken. Und selbst wenn ein jüngerer Mensch einen älteren in einer Übung akzeptieren kann, heißt das noch lange nicht, dass er ihn auch gut findet und sich weiteren Kontakt über die Übung hinaus wünscht.
Ich habe nun schon mehrfach folgende Situation beobachtet oder erzählt bekommen: Junge Frau kommt auf ein Tantraseminar, ist etwas verunsichert ob der neuen Situation, hofft aber, hier endlich mal auf Männer zu treffen, die ein bisschen Bewusster im Umgang mit sich und anderen sind, als die, die ihr normalerweise begegnen. Kaum ist sie da, wird sie von mehreren Männern in oder jenseits der Midlifecrisis belagert, dass man ihr einen Fliegenwedel reichen möchte. Diese Männer projizieren ihre ganze Bedürftigkeit, ihren ganzen Frust über „Das kann doch noch nicht alles gewesen sein“ auf sie und baggern als gäbe es kein morgen, sonnen sich in der Erkenntnis, dass ihr Alter ja keine Rolle spielt und ignorieren schlicht die Signale der Frau, die anzeigen, dass sie einfach kein Interesse hat, oder sich sogar bedrängt fühlt. Und sie ignorieren, dass das Alter der Frauen in ihrem Alter auch keine Rolle spielen sollte. Ja, ich weiß, es gibt auch Frauen, die so handeln. Ja ich weiß, es gibt auch Männer, die das nicht tun.
Ich kann jede Frau verstehen, egal ob jung oder alt, die nach so einer Erfahrung das Handtuch wirft und Tantra für sich abschreibt, bevor sie überhaupt richtig eingestiegen ist, einfach weil es da ja doch nicht anders läuft als sonst im Leben. Und das finde ich unglaublich schade. Auch kann ich jeden Mann, der sich mehr Frauen in der Tantascene wünscht, nur auffordern immer mal wieder inne zu halten und zu überprüfen, ob sein Verhalten, all seinen Lippenbekenntnissen zum Trotz, wirklich dazu beiträgt, dass sich Frauen sicher, wohl, respektiert, geborgen und geschätzt fühlen. Denn wenn sie das nicht tun, ziehen sie sich höchstwahrscheinlich zurück.
Natürlich kann und sollte ich Interesse an einem anderen Menschen, dass ich verspüre, auch ausdrücken. Zu einem bewussten Umgang mit mir und anderen gehört aber meines Erachtens, dass ich erkenne und akzeptiere, dass dieser Mensch meinen Wunsch nach mehr Kontakt möglicherweise nicht teilt. Und ich sollte definitiv darauf achten, ob sich ein anderer Mensch durch meine Versuche, den Kontakt zu vertiefen unwohl oder gar bedrängt fühlt. Auch halte ich es für ein Gebot der Höflichkeit und des Respekts auf Seminaren, dass ich mit jeder Person, die ich in einer Übung akzeptieren kann, auch Übungen mache und sie gegebenenfalls auch dazu auffordere, nicht nur diejenigen, die ich gut (attraktiv) finde. Wer als Kind schon mal erlebt hat, wie es ist, als letzter in die Fußballmannschaft gewählt zu werden, wird wissen, wieso.
Das oben gesagte gilt natürlich auch für alle anderen Eigenschaften, die man ablehnen kann, sei es Mundgeruch, Übergewicht, miesepetrige Grundhaltung, Körperbehaarung (z.B. meiner ), beständigem Redefluss etc., Alter ist halt nur ein häufiges Thema und deshalb habe ich es als Aufhänger genutzt. All diese Sätze in der Art „Im Tantra spielt … keine Rolle.“ sind aus meiner Sicht nur Wegweiser auf dem Pfad der eigenen Entwicklung, sie zeigen wo es hingehen kann und sollte. Leider werden sie öfter mal in den Rang eines Dogmas erhoben, weil es denjenigen, die dies tun, gerade Vorteile bringt. Denn mit Dogmen kann man wunderbar Druck ausüben und andere dazu bringen, Dinge (mit einem selbst) zu tun, die sie sonst nicht tun würden. Und man kann mit ihnen tolle Hierarchien aufbauen: „ Ich bin spirituell viel weiter entwickelt als du, da ich … nicht ablehne. Wenn du genauso weit entwickelt sein willst wie ich, darfst du … auch nicht ablehnen.“
Deshalb hinterfragt jedes Dogma, das euch präsentiert wird und überlegt, wem es nützt. Wenn ihr merkt, das ihr etwas oder jemanden ablehnt, dann steht dazu. Akzeptiert eure Ablehnung, auch wenn ihr glaubt, sie eigentlich nicht fühlen zu dürfen, weil euch jemand erzählt hat, sie wäre falsch. Vergebt euch notfalls dafür und dann seid ihr eingeladen, die Angst, die sich in eurer Ablehnung ausdrückt zu konfrontieren. In eurer eigenen Geschwindigkeit, mit eurer eigenen bewussten Entscheidung dazu.