Tantra und Musik
Musik und Tantra - Orgien der Langsamkeit
Auf den Dirigenten kommt es an. Sergio Celibidache war der größte. Er hat die musikalische Welt verändert. Unter seiner Leitung hört man eine Brucknersymphonie ganz anders als man sie vorher zu kennen glaubte: Intensiver, mehr Details, neue Strukturen, neue Farben, sinnlich, vielfältig. Die Vermittlung von Vielfalt kostet Zeit. Bei Celibidache dominiert eine musikalische Detailkunst in der Langsamkeit und Gelassenheit – und damit auch der
Sinnlichkeit – breiter Zeitmaße. Tempo ist nicht eine Realität, sondern eine Bedingung. „
Ist da eine enorme Vielfalt, die da zusammenwirkt, so brauche ich mehr Zeit, um damit etwas musikalisch anfangen zu können.“
Langsamkeit ist das Tor zum Paradies.
Celibidache genießt den musikalischen Augenblick. Wenn man ihm beim Dirigieren ins Gesicht schaut, fühlt man, dass er Musik zu seinem eigenen Genuß dirigiert, das Publikum ist zweitrangig. Davon profitieren alle, der Dirigent, das Orchester und das Publikum. Er gibt seinen Philharmonikern die Fähigkeit, musikalische Details wie auch deren symphonische Entwicklungen unter großen Spannungsbögen zusammenzufassen; die Ruhe des Einschwingens in Bruckners langem symphonischen Atem; die „
erotische Qualität“, auf Höhepunkte hin zu musizieren. Anfang und Ende als zusammengehörig zu erleben. Auf diese Weise gewinnt der Dirigent der Musik ungeahnte architekturelle Spannungsverläufe, neue motivische Zusammenhänge und Klangwirkungen ab. Mit Celibidache kann man selbst im altvertrauten Repertoire auf Entdeckungsreise gehen.
Celibidache schöpft – ebenso wie Tantra - seine Kraft aus fernöstlicher Philosophie.
„
Die Wahrheit liegt hinter dem Denken“ heißt eine Weisheit der Zen-Buddhisten. Und hinter dem Denken sucht Celibidache die Musik. Die Wirklichkeit kann man nicht denken. Aber man kann sie erleben. So gesehen ist Musik Wirklichkeit.
Ein Erlebnis ist einmalig und nicht wiederholbar. Celibidache läßt entstehen. Nichts ist reproduzierbar. Präsenz ist entscheidend. Musik wird ehrfürchtig zelebriert.
Zeremonien, Riten, sinnliches Erleben finden wir auch in unserer Kultur, tief in uns. Zum Wiederentdecken können uns fernöstliche Traditionen durchaus hilfreich sein, aber wir müssen deshalb nicht gleich zum Hinduismus konvertieren.
Denn unsere eigene abendländisch-christliche Kultur hat eben nicht nur das abstrakte Denken hervorgebracht, sondern auch immer schon kreative Sinnesfreude, Meditation, Kontemplation, Mystik und spirituelle Ekstase. Ein Beispiel von der Klostergründerin, Dichterin und Komponistin Hildegard von Bingen (1098-1179):
Caritas habundat in omnia
Die Liebe strömt über in alles,
unendlich erhaben von den tiefsten Tiefen
bis über die Sterne hinaus;
unendlich liebend alles,
weil sie dem höchsten König
den Friedenskuß gegeben hat.
In ihren Visionen durchdringt Hildegard den Kosmos und schafft eine Glaubenslehre der Weiblichkeit, die heute noch (oder wieder?) anrührt, wobei die Ehrfurcht vor den beiden göttlichen Prinzipien, der männlichen und der weiblichen Kraft, keineswegs geschmälert wird.
Musik ist geeignet, Liebe als die unbeschreiblichen Klänge der himmlischen Sphären wiederzuspiegeln.
Dabei kommt es auf den Dirigenten an. Gute Dirigenten weisen den Weg.
Und so kommt es auch bei der Liebe und bei einer Tantra-Massage auf das Zeitmaß an. Richtig dirigiert wird die rituelle Zeremonie zu einer neuen Orgie der Langsamkeit!