Akzeptanz des eigenen Geschlechts vs. Setzen der eigenen Gre
Ich möchte euch von einem Erlebnis berichten, das ich hatte, und meinen Gedanken dazu, denn es interessiert mich, wie ihr darüber denkt. Da es in Foren allerdings allzu leicht geschieht, dass man als unbeteiligter Leser die eigene Wut auf Geschehnisse projiziert, die andere Leute betreffen, und in seiner Wortwahl entsprechend ausfallend wird, möchte ich einen Punkt in aller Deutlichkeit klarstellen. Ich betrachte die Situation mit allen Beteiligten als geklärt und wünsche mir, dass ihr von Kommentaren wie „Das geht ja wohl gar nicht“, „Das ist sowas von untantrisch“ oder „Reißt dem Schwein die Eier ab“ einfach mal abseht, auch wenn es schwerfällt. Mir geht es nicht um die Geschehnisse an sich, sondern um die Fragen, die sich daraus für mich ergeben haben. Um zu erklären, was die Fragen bei mir aufgeworfen hat, finde ich es aber sinnvoll die Vorgeschichte grob zu schildern.
Ich war auf einem Tantratreffen, die anderen Teilnehmer, von denen ich manche dort zum ersten Mal kennenlernte, setzen sich mit (Neo-)Tantra z.T. deutlich länger auseinander als ich.
Zum einstimmen haben wir getanzt und einer der Männer packte im vorbeitanzen mehrmals an meinen Hintern und drückte kräftig zu. Ich habe diese Berührung als übergriffig weil sehr sexualisiert, Besitzergreifend und rücksichtslos empfunden. Mein sexuelles Interesse an Männern tendiert deutlich gegen Null und entsprechend habe ich keine Signale an ihn geschickt, die zu dieser Berührung aufgefordert hätten. Er hat schlicht seine eigenen Wünsche in die Tat umgesetzt, ohne meine zu beachten. Am Ende der anschließenden Männerrunde habe ich ihn dann aufgefordert, seine Hände bei sich zu behalten, interessanter Weise hatte ich in diesem Augenblick aber auch das Bedürfnis mich dafür zu rechtfertigen, um nicht als homophob abgestempelt zu werden.
Im nachherrein haben sich bei mir einige Gedankengänge und Fragen dazu manifestiert:
1. Hätte er einer Frau an den Hintern gepackt und sie ihm im Gegenzug eine gescheuert, wäre die Gruppe aller Wahrscheinlichkeit nach geschlossen auf Seiten der Frau gewesen. Hätte ich ihm eine gescheuert, wäre ich nun wohl als gewalttätiger, homophober Prolet verschrieen. Warum? Wird von Männern im neotantrischen Bereich tatsächlich erwartet, so etwas einfach hinzunehmen oder bilde ich mir das nur ein? Wie sind eure Einschätzungen bzw. Erfahrungen?
2. Bin ich ein schlechter Tantriker, weil ich kein Interesse an sexuellem Kontakt zu Männern habe?
3. Ist im Neotantra, wie in so vielen anderen Bereichen des Lebens auch, ein System aus Gruppendruck/ -erwartung und Anpassung am Werk, das Leute dazu bringt etwas zu tun, was sie eigentlich nicht wollen, nur um dazu zu gehören und v.a. einen gewissen Status zu erlangen, etwa nach dem Motto: "Ich habe meine Blockaden in Bezug auf das eigene Geschlecht komplett abgebaut, sehet her, wie weit ich bin und preiset mich"?
4. Wird durch intensive Beschäftigung mit Neotantra das Geschlecht des Sexualpartners tatsächlich auch für vollständig heterosexuelle Menschen belanglos oder lernen dadurch einfach nur viele Menschen ihre eigene latente Bisexualität zu akzeptieren und zu leben, da sie nun eine Art Erlaubnis erhalten haben? Ich beziehe mich hier ausdrücklich auf die sexuelle Ebene, nicht auf eine generelle Liebe zu allen Geschöpfen.
5. Haben die Leute, die irgendwann mal das Postulat von der Belanglosigkeit des Geschlechts im Neotantra in die Welt gesetzt haben, nicht vielleicht bloß ihre eigene Bisexualität mit dem Prädikat 'erleuchtet' versehen und als Status Quo definiert?
Bedingt durch die Tatsache, dass mein Zwillingsbruder schwul ist, habe ich mich relativ früh mit dem Thema Homosexualität auseinander gesetzt. In meinem bisherigen Leben ist mir allerdings noch kein Mann begegnet, der auch nur einen Hauch an sexuellem Interesse bei mir ausgelöst hätte und ich bezweifle stark, dass es dazu noch mal kommen wird. Im Artikel eines Psychologen, der Homosexualität erforscht hat, habe ich vor Jahren mal gelesen, dass die beste Methode um herauszufinden, ob man bisexuelle Neigungen hat, darin besteht, die eigenen erotischen Träume und Tagesphantasien zu beobachten. Wenn dort öfter mal Personen des eigenen Geschlechts auftauchen, ist eine Neigung in diese Richtung wahrscheinlich vorhanden. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass entsprechende Träume oder Phantasien von Männern je bei mir aufgetaucht wären, daher hatte ich das Thema Bisexualität schon lange für mich abgehakt. Erst durch die Beschäftigung mit Tantra ist es wieder präsenter geworden. Bei diversen Übungen mit Männern habe ich mir halt die Frage gestellt, wie viel von meiner Abneigung auf Angst und wie viel auf Desinteresse beruht.
Solche Übungen halte ich auch durchaus für sinnvoll und gut, allerdings nur so lange, wie sie einen Menschen dahin führen, die Intimität mit Mitgliedern des eigenen Geschlechts zu zulassen, die er sich wünscht, aber aus Angst oder Scham nicht zugelassen hat. Wenn sie jedoch weiter gehen, also die Grenze der eigenen Wünsche überschreiten, sollte man sie abbrechen, egal, wie andere Leute darüber denken. Man fügt sich nur selbst Verletzungen zu, wenn man etwas tut, bloß weil es von anderen erwartet wird (oder man glaubt, andere würden es erwarten), obwohl man es eigentlich gar nicht will. Sexuelle Unterdrückung durch die Gesellschaft und geforderte starke sexuelle Öffnung durch eine Sub-Gesellschaft sind nur zwei Seiten der selben Münze. Es ergeben sich die selben negativen Auswirkungen für das eigene ich, da man sich schlicht selbst verleugnet, wenn man sich dem (gefühlten / eingebildeten) Druck beugt.
Und sexuelle Beliebigkeit ist meiner Ansicht nach nur ein sehr schlechter Indikator für die spirituelle Entwicklung eines Menschen, doch leider habe ich den Eindruck, dass v.a. in der Neotantra Szene diese Verbindung gerne gezogen wird – je Bisexueller desto erleuchteter.
Etwas akzeptieren und etwas mögen sind aber zwei Paar Schuhe. Ich kann Homo- oder Bisexualität bei anderen Menschen genauso akzeptieren wie Golfspielen, BDSM Praktiken, das Tragen von Schnauzbärten oder das Sammeln von glitzernden, niedlichen Tierfigürchen aus sündhaft teurem Kristallglas, dass heißt aber noch lange nicht, dass ich auch Lust habe mich an derartigen Aktivitäten zu beteiligen.
Ich weiß, dass ich längst noch nicht alle Hemmungen in Bezug auf Homosexualität abgelegt habe, die man zwangsläufig entwickelt, wenn man in unserer Gesellschaft aufwächst. Ich möchte schon an den Punkt kommen, wo ich einem Mann vorbehaltlos eine Tantramassage geben kann, der Wunsch eine von einem Mann zu empfangen oder nach weitergehendem sexueller Austausch mit Männern fehlt mir allerdings völlig. Und ich bin sicher, dass nicht Angst sondern schlicht mangelndes Interesse der Grund dafür ist, mir fehlt bei Männern einfach ein Ansatz- oder Ankerpunkt für meine eigene Erregung, körperlich genauso wie energetisch.
Da ich vermute, dass es vielen anderen Menschen in Bezug auf ihr eigenes Geschlecht ähnlich geht, schließe ich noch mit drei Sätzen:
• Findet heraus, was ihr wirklich wollt.
• Wenn ihr es herausgefunden habt, steht dazu.
• Akzeptiert andere Menschen auch in ihren Grenzen.
Ich Freue mich auf eure Kommentare
Scarabin